Krankheitsbild Lipödem Diagnose, Behandlungsmöglichkeiten und Entwicklung

Das krankhaft vermehrte Fettgewebe kriegen Sie eigentlich nur über die Operation beseitigt.

Dr. med. Jens Diedrichson

Dr. med. Jens Diedrichson – Facharzt für Plastische und Ästhetische Chirurgie, FEBOPRAS (Fellow of the European Board of Plastic, Reconstructive and Aesthetic Surgery) sowie Gründungsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Lipödem-Chirurgie e.V. (DGfLC) - hat mit uns über das Krankheitsbild Lipödem, die Diagnose, Behandlungsmöglichkeiten und die Hürden, welchen Lipödempatientinnen in Deutschland begegnen sowie darüber, warum die Krankheit mehr Aufmerksamkeit braucht und was es mit der DGfLC auf sich hat, gesprochen.

Das Krankheitsbild Lipödem

myBody: Herr Dr. Diedrichson - Lipödem, was ist das eigentlich?

Dr. med. Jens Diedrichson: Beim Lipödem handelt es sich um eine chronische Erkrankung mit einer Verteilungsstörung und krankhaften Vermehrung des Unterhautfettgewebes sowie Ödemneigung der betroffenen Extremitäten. Das Lipödem ist als Krankheitsbild mit ICD-Kodierung (International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems) anerkannt. Betroffen sind in der Regel nur Frauen.

myBody: Im Zusammenhang mit Lipödem hört man immer wieder von Stadien und Typen. Was hat es damit auf sich?

Dr. med. Jens Diedrichson: Das Lipödem wird in Stadien und Typen eingeteilt. Die Stadieneinteilung beschreibt den Schweregrad der Erkrankung und wie weit sie fortgeschritten ist: Im ersten Stadium findet man kleinknotiges schmerzhaftes Fett, im Stadium 2 liegen bereits großknotige Fettgewebsvermehrungen vor und im Stadium drei liegen Gewebsüberschüsse vor, die übereinander hängen.

Die Typenbezeichnung beschäftigt sich mit dem Ort der Krankheitsentstehung. Hier wird beschrieben, ob die Arme, die Beine, die Unterschenkel, die Oberschenkel betroffen sind oder z.B. das ganze Bein. Die verschiedenen Typen des Lipödems beschreiben sozusagen den Ort des Geschehens.

myBody: Ist das Lipödem erblich?

Dr. med. Jens Diedrichson: Die Ursache ist leider noch unbekannt. Eine genetische Ursache in der Entstehung des Lipödems ist wahrscheinlich. Man weiß, dass hormonelle Einflüsse das Lipödem triggern können. Pubertät, Schwangerschaft oder Menopause sind da typische Zeitpunkte im Leben, wo über hormonelle Veränderungen auch noch mal ein Schub der Erkrankung ausgelöst werden kann.

myBody: Lässt sich der Verlauf der Krankheit vorhersagen?

Dr. med. Jens Diedrichson: Das Lipödem ist eine chronisch fortschreitende Erkrankung, deren Verlauf schwer vorhersagbar ist. Es muss nicht immer zwangsläufig gleichmäßig von Stadium 1 in 2 in 3 übergehen. Die Erkrankung kann auch stagnieren oder durch Schübe getriggert und verschlechtert werden.

myBody: Welche Schwierigkeiten gibt es bei der Lipödem-Diagnose?

Dr. med. Jens Diedrichson: Viele Patientinnen hören vielleicht noch immer von Ärzten, die in dem Thema nicht so zu Hause sind „du bist zu dick, nimm doch mal ab!“. Genau das funktioniert aber an den von Lipödem betroffenen Arealen nicht. Daher ist es natürlich sehr wichtig, dass diese Erkrankung eine gewisse Bekanntheit erhält, die sogenannte „awareness“ erhöht wird, damit möglichst viele Behandler die Erkrankung frühzeitig erkennen und so eine Behandlung eingeleitet werden kann und den Patientinnen ein langer Leidensweg verkürzt werden kann. Das passiert gerade in den Medien verstärkt, sodass mittlerweile viele verstanden haben: „Ach guck mal: Arme dick, Beine dick, Schmerzen, Schwellneigung, häufig blaue Flecken, der Rest des Körpers ist schlank, da passt doch irgendwas nicht, das könnte doch ein Lipödem sein“. Hier muss man die Wachsamkeit fördern, dass die Patientinnen nicht untergehen und dass sie auch frühzeitig einem Arzt vorgestellt werden, der ihnen die richtigen Therapiemöglichkeiten eröffnen kann.

Denn wenn es nur heißt, sie sind zu dick oder sie haben da ein Ernährungsproblem und die Patientin selber nicht weiß, dass es die Krankheit Lipödem gibt und dann in dieser Spirale gefangen ist, wo sie nicht die richtige Ausfahrt kriegt, nämlich die Diagnose Lipödem gestellt wird und ihr damit auch erst diese Therapiemöglichkeiten eröffnet werden. Das ist dann schon schwierig.

Und das muss jetzt passieren, dass die Erkrankung in den entsprechenden Schnittstellen, sei es die Hausarztpraxis, der Gynäkologe oder ein anderer Behandler, vielleicht auch der Physiotherapeut, überall so präsent ist, dass man das erkennt, dass man den Patientinnen dann auch die Möglichkeit gibt, sich an die entsprechenden Stellen zu wenden. Oder wenn man als Patientin denkt, ich habe sowas. Es gibt mittlerweile viele Internetseiten von Behandlern, wo man auch anhand von Checklisten überprüfen kann, ob ich gegebenenfalls ein Lipödem habe ... Es gibt mittlerweile wirklich viele Möglichkeiten sich darüber zu informieren, wie z. B. bei Selbsthilfegruppen und darüber findet man dann auch den richtigen Ansprechpartner in seiner Region.

myBody: Würden Sie sagen, es gibt auch die Gefahr, dass ein Lipödem komplett falsch behandelt wird und es für die Patientinnen dann eher schlimmer wird als besser?

Dr. med. Jens Diedrichson: Also schlimm ist es erst mal, wenn es gar nicht behandelt wird. Das ist etwas, was oftmals passiert, wenn die Patientinnen einfach nicht an die richtige Stelle kommen, wo man die Erkrankung kennt und erkennt. Wo man dann auch in die Wege leiten kann, dass man es vielleicht erst einmal mit den konservativen Maßnahmen versucht, die Patientin sehen kann “komm ich damit klar, reicht mir das, bin ich damit zufrieden, ist das ein Weg der für mich passt?“. Wenn das nicht der Fall ist, muss man jemanden haben, der die Weichen stellt und sagt, „da gehst du jetzt mal zu jemandem, der so etwas operiert“. Natürlich sind das große OPs, bei denen richtig viel Volumen entfernt werden muss. Die man auch handhaben können, eine anständige Nachsorge betreiben und sich um die Patientinnen kümmern. Das ist wirklich eine OP mit der man Erfahrung haben sollte und auch ein Behandlungskonzept für die Patientin entwickeln können muss.

myBody: Wirkt sich die Krankheit Lipödem auch psychisch auf die Patientinnen aus?

Dr. med. Jens Diedrichson: Bei vielen ist das eine erhebliche Belastung. Das ist natürlich etwas, was im Alltag komplett durchschlägt, was die Betroffenen in allen Bereichen beeinträchtigt und für viele ist diese Erkrankung ein harter Schicksalsschlag, weil man eben noch nicht so richtig die Ursache kennt und weil es eben auch schwierig und langwierig ist, sich behandeln zu lassen und das oftmals auch mit finanziellen Problemen einhergeht, wenn die Krankenkasse die Kosten für die Behandlung nicht übernimmt. Das sind aufwändige, große Operationen, die letzten Endes dann von den Patientinnen oftmals selber getragen werden müssen. Das sind oftmals große Operationen, die einen auch kreislaufmäßig mal von den Füßen holen können, mit Schwellungen, mit blauen Flecken und vorübergehenden Einschränkungen im Alltag. Das sind richtig große Wundflächen, von der wir da bei jeder OP sprechen. Das ist oft ein richtig großer Eingriff, das darf man nicht unterschätzen.

myBody: Wer genau behandelt das Lipödem letztendlich?

Dr. med. Jens Diedrichson: Wenn die Betroffenen einen Hausarzt haben, der in dem Thema engagiert ist, ihnen die Miederhose aufschreibt, sie zur Lymphdrainage schickt, ist schon mal ein guter Anfang gemacht. Es behandeln viele Lymphtherapeuten Lipödeme, es gibt viele Gefäßchirurgen oder Phlebologen, die sich in dem Thema beschäftigen, es gibt auch Allgemeinchirurgen, die da sehr engagiert sind. Es gibt natürlich auch viele plastische Chirurgen oder Dermatologen, die in dem Thema Bescheid wissen und auch die operative Versorgung mit abdecken können. Bei dieser Erkrankung gibt es viele Anlaufstellen in vielen Fachbereichen für die Patientinnen.

Deswegen ist die Deutsche Gesellschaft für Lipödemchirurgie (DGfLC) auch als fachübergreifende Gesellschaft gegründet worden. Das ist auch nicht beschränkt auf gewisse Facharztgruppen. Die DGfLC ist auch nicht nur für Ärzte, sondern auch für andere Personen, die Lipödeme behandeln, wie z. B. Physiotherapeuten. Auch die Miederversorgung spielt eine wichtige und tragende Rolle, sei es als alleinige Behandlung oder sei es nach der OP. Auch da ist die Lymphdrainage zur schnellen Genesung wichtig. Das geht alles Hand in Hand und da greifen ganz viele Bereiche ineinander, die eben über diese DGfLC ein gemeinsames Forum und eine gemeinsame Plattform haben sollen.

myBody: Sie hatten eben schon die Deutsche Gesellschaft für Lipödemchirurgie erwähnt. Was ist das Ziel der DGfLC?

Dr. med. Jens Diedrichson: Die große Bestrebung ist, sich fachübergreifend mit allen Fachärzten und Behandlern, die Schnittpunkte haben, offen mit diesem Thema auseinanderzusetzen, allen die gleiche Informationsplattform zu bieten und allen die Möglichkeit zu geben, sich zu engagieren oder zu informieren. Das betrifft ja viele Berufsgruppen. Das sind nicht nur Chirurgen, das ist internistisch, das ist endokrinologisch, da sind Physiotherapeuten mit im Boot. Das ist nicht nur ein chirurgisches Thema.

myBody: Ziel der DGfLC ist es auch, die Implementierung einer qualitätsgesicherten Patientinnenversorgung zu unterstützen sowie die Vereinheitlichung der Behandlungsstandards zur Diagnose, Therapie und Nachsorge des Lipödems voranzubringen. Was genau bedeutet das denn jetzt für Patientinnen konkret und wie kann man sich die Umsetzung vorstellen?

Dr. med. Jens Diedrichson: Zur Behandlung von Lipödem-Patienten gibt es ja bereits Richtlinien. Da gibt es schon die Lipödemrichtlinie in den AWMF Leitlinien (Medizinische Leitlinien der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e.V.). Für die operative Versorgung ist ein standardisiertes Vorgehen wichtig, um hier Fehler zu vermeiden. Ob man das jetzt für jeden Schritt penibel festlegt, dass weiß ich nicht, aber wichtig ist, dass der Fahrplan für so eine Patientin klar ist. Das klar ist, was vor der OP wichtig ist. Das klar ist, was nach der OP wichtig ist. Und natürlich wie so eine Operation abzulaufen hat. Denn das unterscheidet sich schon von rein ästhetischen Liposuktionen und da ist es wichtig, dass alle Patientinnen auf dem gleichen Niveau versorget werden können. Dass die Patientin sicher und gut versorgt ist und dass man eine Maßgabe hat, an die man sich halten kann.

Und das sind Dinge, die jetzt über diese Gesellschaft etabliert werden sollen. Das ist sicherlich auch etwas, wo im wissenschaftlichen Austausch Dinge viel leichter noch einmal geändert und verbessert werden können, wo man sich über den ein oder anderen Punkt streiten kann, wo eben dieser kollegiale Austausch stattfindet, richtig gepflegt und geführt werden soll, damit man auch immer anhand der neuen Erkenntnisse den eigenen Behandlungsstandard wieder anpassen kann. Denn da gibt es jetzt viel Forschung zur Physiologie des Fettgewebes, was passiert da, was ist an diesen Fettzellen anders und vielleicht gibt es auch irgendwann noch ganz andere Behandlungsarten für das Lipödem, aber im Moment steht einem da leider nicht so viel zur Verfügung.

Behandlungsmöglichkeiten bei Lipödem

myBody: Wie genau kann das Lipödem behandelt werden?

Dr. med. Jens Diedrichson: In Deutschland zugelassen ist nur die rein konservative Behandlung des Lipödems, d. h. ohne OP. Da wird dann mit Lymphdrainage und Kompressionstherapie diese vermehrte Flüssigkeitseinlagerung aus dem Gewebe gebracht und über Kompression versucht, diesen Zustand möglichst lange aufrecht zu erhalten. Sodass die Patientinnen in der Regel aber schon 2-3 Mal in der Woche zur Lymphdrainage gehen müssen und das dann eben auch dauerhaft, sprich lebenslang Lymphdrainage und Kompressionstherapie. Die Ursache des Lipödems ist eben auch das krankhaft vermehrte Fettgewebe. Das kriegen sie mit Lymphdrainage und Kompressionstherapie nicht weg. Um das zu behandeln bleibt dann nur die Operation.

myBody: Kann eine Ernährungsumstellung Abhilfe schaffen? Und kann man dadurch die Ausbreitung des Lipödems reduzieren?

Dr. med. Jens Diedrichson: Basische Ernährung ist etwas, das in diesem Themenkomplex aktuell oft auftaucht, was Beschwerde- und Empfindungssymptomatik positiv beeinflussen kann und damit eben auch die Schmerzkomponente der Krankheit positiv mitbeeinflusst. Aber das krankhafte Fettgewebe kriegen sie so natürlich nicht reduziert und das ist auch ganz schwer abzunehmen. Das schaffen die meisten Patientinnen eigentlich gar nicht, denn Lipödem heißt, dass sie krankhafte Fettzellen oder krankhaftes Fettgewebe haben, welches sich nicht so verhält wie das „normale“ Fettgewebe. Das ist über Diäten eigentlich nicht beeinflussbar, sodass man sich bei dieser chronisch fortschreitenden Erkrankung, wenn man dem nicht Einhalt gebietet, mit eventuell immer stärker fortschreitender Fettgewebevermehrung konfrontiert sieht.

myBody: Ein Lipödem lässt sich also nur über den operativen Weg loswerden?

Dr. med. Jens Diedrichson: Genau. Das krankhaft vermehrte Fettgewebe kriegen sie eigentlich nur über die Operation beseitigt. Darüber erfahren die Patientinnen natürlich eine erhebliche Erleichterung in ihrem Alltag. Das ist eine wahnsinnige Lebensqualitätsverbesserung, die man den Patientinnen mit so einer Absaugung wieder zurückgeben kann.

Schön ist es natürlich, wenn man Patientinnen in frühen Stadien des Lipödems behandeln kann, denn dann ist das Ausmaß dieser Fettgewebsvermehrung noch nicht so ausgeprägt. Manchmal geht das bis hin zu wirklich hängenden Haut- und Fettgewebsüberschüssen, die dann nicht nur abgesaugt werden können, sondern die dann mit großen und aufwändigen Straffungsoperationen zusätzlich weggeschnitten werden müssen.

Die operative Lipödem-Behandlung

myBody: Kann das Lipödem zurückkommen, wenn es operativ entfernt wurde?

Dr. med. Jens Diedrichson: Wenn man das gründlich und ordentlich absaugt, ist die Wahrscheinlichkeit, dass es wieder kommt, extrem gering.

Wenn jetzt eine Patientin mit einem Lipödem an den Oberschenkeln kommt und folgerichtig auch nur der Oberschenkel behandelt wird, weil nur dort das erkrankte Gewebe sitzt, kann es natürlich immer sein, dass sie vielleicht an den Armen irgendwann ähnliche Beschwerden entwickelt oder das vielleicht auch irgendwann die Unterschenkel betroffen sind. Aber nach einer Operation ist es sehr unwahrscheinlich, dass an der operierten Stelle das Lipödem noch mal zurückkommt.

myBody: Wie lange ist man nach der Lipödem-OP vom Alltag ausgeschlossen?

Dr. med. Jens Diedrichson: Das kommt so ein bisschen drauf an, was man macht. Selbstständige sind relativ schnell aus eigenem Antrieb heraus auch wieder fit. Eine gute Woche ist realistisch als eine vernünftige Schonungs- und Ruhezeit. Wenn man körperlich stark arbeiten muss, können auch mal zwei Wochen sinnvoll sein. Für einen Computerjob kann ich mich sicher auch nach einer Woche wieder hinsetzen.

Jeder reagiert unterschiedlich. Manche haben wirklich extrem viele blaue Flecken. Diese Krankheit hat auch eine vermehrte Hämatomneigung in dem Beschwerdebild. Dadurch können nach einer Operation natürlich auch Hämatome und erhebliche Schwellungen zu sehen sein. Die Verläufe nach den OPs sind tatsächlich schon ein bisschen individuell.

myBody: Was muss man nach der OP beachten?

Dr. med. Jens Diedrichson: Wir haben gerne immer 6 Wochen nach der OP eine konsequente Kompressionstherapie, idealerweise mit Flachstrick-Kompressionsware. Viele Patientinnen tragen diese schon über Jahre täglich, um im Alltag überhaupt zurechtzukommen. Das hilft vielen Patientinnen schon sehr.

myBody: Muss man auch nach der vollständigen Genesung noch Kompressionskleidung tragen?

Dr. med. Jens Diedrichson: Wenn es jetzt z. B. um das Bein geht, sind in der Regel meist 2 Sitzungen notwendig. Wenn das Bein komplett fertig behandelt ist, kann man nach 6-8 Wochen testen, inwieweit man ohne Kompression zurechtkommt. Das ist das Ziel, dass die Patientinnen keine Kompression mehr tragen müssen. Und dass die Patientinnen nicht mehr zwei-, dreimal die Woche zur Lymphdrainage gehen müssen. Dass sie ein ganz normales Leben führen können. Das ist es, worum es am Ende geht.

 

Kostenübernahme und Finanzierung der Lipödem-Behandlung

myBody: Werden die Operationskosten bei Lipödem von den Krankenkassen übernommen?

Dr. med. Jens Diedrichson: Für Patientinnen im frühen Stadium werden Operationskosten in der Regel nicht übernommen, für Patientinnen ab Stadium 3, die noch zusätzlich eine ganze Handvoll Kriterien erfüllen müssen, übernimmt seit 2018 die Krankenkasse auch die Kosten, wenn alle Voraussetzungen erfüllt sind.

Die privaten Kassen sind da ein bisschen flexibler, die übernehmen häufiger auch schon mal die Kosten für operative Behandlungen.

myBody: Lohnt es sich als Patientin in einem früheren Stadium dennoch die Kostenübernahme zu beantragen?

Dr. med. Jens Diedrichson: Man kann das als Einzelfall bei der Krankenkasse beantragen, leider funktioniert das nur ganz selten, obwohl Patientinnen, die in früheren Stadien sind, im Alltag und mit ihrer Lebensqualität auch schon erheblich eingeschränkt sein können. Deshalb würde ich es auf jeden Fall versuchen, einen Kostenübernahmeantrag zu stellen. So ein Kostenübernahmeverfahren, medizinischer Dienst eingeschlossen, hat eine Bearbeitungsfrist von fünf Wochen. Den Versuch würde ich als Patientin immer machen.

Man kann den Patientinnen, wenn man frühzeitig operiert, auch oft vieles an OP ersparen. Denn bei sehr ausgeprägten Befunden, bleibt natürlich ab einem gewissen Grad ein Hautüberschuss, der dann auch noch weggeschnitten werden muss. Wenn das Bein aber vielleicht ein paar Jahre vorher schon operiert werden kann, sodass die Haut sich gut zurückbilden kann und das Bindegewebe sich ausreichend von alleine strafft, sodass man nach der OP gar keine weitere Straffung braucht, habe ich der Patientin zum einen natürlich viele Jahre Leidensweg erspart, zum anderen auch aufwändige OPs mit großen und für immer sichtbaren langen Narben. Das sind auch Dinge, die man auch berücksichtigen muss. Deswegen ist es eigentlich immer schön, wenn Patientinnen tatsächlich erheblich darunter leiden und auch den Wunsch haben, sich mit einer Operation dieser Krankheit zu entledigen, frühzeitig die Möglichkeit zu nutzen.

myBody: Gibt es denn auch Patientinnen, die resignieren, weil sie sich das selbst nicht leisten können, das operativ zu behandeln?

Dr. med. Jens Diedrichson: Diese Fälle gibt es bestimmt. Einigen bleibt oft nur die Finanzierung der notwendigen Eingriffe.

myBody: Wie werden die Patientinnen bei diesen Kostenanträgen unterstützt?

Dr. med. Jens Diedrichson: Von uns kriegen die Patientinnen einen Antrag auf Kostenübernahme. Dieser beinhaltet die Diagnose, die Krankengeschichte und die operative Planung. Dann ist es natürlich immer gut, wenn ein zweiter Facharzt, der die Patientin davor vielleicht schon konservativ betreut hat, auch noch ein Attest erstellen kann, woraus hervorgeht, dass die Patientin mit den konservativen Methoden nicht weiterkommt. Das ist das, was die Krankenkasse auch gerne sehen möchte: Erst mal der Versuch mit dem, was zugelassen ist und wenn das nicht reicht, kann man den nächsten Schritt gehen.

myBody: Angenommen, die Kostenübernahmeantrag schlägt fehl. Welche Finanzierungsmöglichkeiten gibt es?

Dr. med. Jens Diedrichson: Da gibt es viele Anbieter, für Finanzierungen im medizinischen Bereich.

myBody: Denken Sie denn dadurch, dass das Thema jetzt auch mehr mediale Aufmerksamkeit erhält und es mehr Aufklärung gibt, dass sich von Seiten der Krankenkassen aus in Zukunft etwas ändern wird?

Dr. med. Jens Diedrichson: Von den Kassen wird sich etwas ändern, wenn die Erprobungsstudie ausgewertet ist. Das wird aber sicherlich noch eine ganze Weile dauern.

myBody: Und was meinen Sie von was für einem Zeitraum sprechen wir denn da ungefähr?

Dr. med. Jens Diedrichson: Das wird sicherlich noch ein paar Jahre dauern, bis das zu einer verbindlichen Entscheidung führt.

myBody: Das wäre natürlich schön gewesen, wenn sich das schneller ändern würde ...

Dr. med Jens Diedrichson: Na klar, wäre das schön! Insbesondere für die Patientinnen wäre das sicherlich eine riesen Erleichterung, denn so ist es einfach mühsam und umständlich. Das ist alles auch nicht einfach für die Patientinnen. Wir hoffen, dass sich das alles ein bisschen, vielleicht mit Ende dieser Studie, für die Patientinnen vereinfacht oder dass es zumindest eine klare Richtlinie gibt. Aber die derzeitige Situation macht es den Beteiligten echt schwierig.

myBody: Möchten Sie den Betroffenen noch etwas mit auf den Weg geben?

Dr. med. Jens Diedrichson: Wichtig für die Patientinnen ist, sich zu trauen: Betroffene sind gut vernetzt und miteinander auch im Austausch. Es gibt ganz viele Netzwerke und Selbsthilfegruppen. Was man den Patientinnen mit auf den Weg geben kann, ist, sich vielleicht mal an eine professionelle Anlaufstelle zu wenden, um zu sehen, da gibt es ganz viele andere, die haben dieselben Probleme, da gibt es ganz viele andere Frauen, die haben genau das gleiche Leid wie ich das habe und man kann da was dran machen. Man kann da ganz viel Lebensqualität wiederherstellen. Und dass man sich da einfach mal traut, den ersten Schritt macht, hingeht, mit anderen Betroffenen spricht und über diese Kontakte dann die nächsten Schritte gehen kann: zu einem Physiotherapeuten, für eine vernünftige Miederversorgung und dann vielleicht, wenn man denn in diese Richtung gehen möchte, sich bezüglich der Option OPs beraten lassen.

Das heißt nicht, wenn man einen Termin bei einem Chirurgen macht, dass man sich da sofort operieren lassen muss. Da kann man aber mal eine Idee davon kriegen, was einem das für Optionen ermöglichen könnte. Das ist eine Option, die für viele für ganz viel Lebensqualität sorgt, auch wenn man zunächst meistens von mehreren Operationen spricht. Aber die Patientinnen sind so erleichtert und glücklich danach. Das ist eine ganz tolle Sache, wenn man wieder in ein normales Leben zurückgehen kann.

myBody: Sind diese Anlaufstellen leicht zu finden?

Dr. med. Jens Diedrichson: Zum einen soll das natürlich über die DGfLC möglich sein, zum anderen gibt es regional mittlerweile fast überall Selbsthilfegruppen, die sich um die Patientinnen kümmern.

myBody: Dr. Diedrichson, vielen Dank für dieses umfangreiche und informative Interview!

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